Revolution, Flucht und Exil

Wiener Konzerthaus | 19. & 20. Juni 2015, 19.30 Uhr
Vier Kurzopern zum Thema E
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Im Rahmen von 37. Internationales Musikfest der Wiener Konzerthausgesellschaft und der Wiener Festwochen

René Staar (*1951)
Prolog eines Namenlosen (2012) (UA) Dramatischer Monolog für einen Sänger und Kammerensemble op. 22m

Alexey Krasheninnikov (*1976)
Verdammte Tage (2015) (UA) Leseoper für Vorleser, Tenor, Sopran und Kammermusikensemble
Text und Musik von Alexey Krasheninnikov

Alexander Shchetynsky  (*1960)
Interrupted Letter (2013) (UA) Opernphantasie in einem Akt, sieben Episoden für Bariton, Tenor, Sopran und Ensemble
Text und Musik von Alexander Shchetynsky

Wladimir Pantchev (*1948)
Emigranten (2012/13) (UA) Kammermusikspiel in einem Akt für Bariton, Temor und Ensemble
Text nach Motiven des gleichhnamigen Schauspiels von Slawomir Mrozek

In einer Zeit, in der Asylsuchende in Europa in an Konzentrationslager gemahnenden Anlagen inhaftiert sind, in der man es zulässt, dass Flüchtlinge in Booten vor Europas Küsten ertrinken, in der unmenschliche Asylgesetze eher zu Bedrohung als zur Hilfe für Flüchtende werden, realisierte das Ensemble Wiener Collage unter seinem künstlerischen Leiter René Staar den ersten Teil seines großen Projekts "Exil" im Wiener Konzerthaus. Aktueller könnte das Thema wohl kaum sein...

Ursprünglich bereits vor mehr als fünf Jahren als zyklisches Musiktheaterprojekt konzipiert, musste es lange warten, bis die dafür notwendige Unterstützung bei einem Veranstalter und bei Förderern groß genug war, diesem "heissen Eisen" den nötigen Rückhalt zu geben. Ein besonderer Zufall hat auch dazu geführt, dass das Projekt einen Komponisten aus Kiew und einen anderen aus St. Peterburg miteinbezieht und es daher auch  zumindest als Versuch eines versöhnlichen Beitrags des Ensemble Wiener Collage im aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Ukraine angesehen werden darf.

An den vier Einaktern kann man die Vielschichtigkeit der Themen, die sich um Exil, Verbannung und deren Ursachen wie Krieg oder Revolution ranken, erahnen. In seinem "Prolog eines Namenlosen" stösst René Staar das Thema an, indem er seinen Protagonisten in dessen Position als Asylwerber eine Anklage gegen Abschiebung und Abwehr der Asylsuchenden singen lässt. Alexander Shchetynskys "Unterbrochener Brief" liefert Einblicke in das Leben des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko. "Verfluchte Tage" ist der Titel eines Buchs des ersten russischen Nobelpreisträgers Iwan Bunin, in dem er seine Sicht als "Dissident" auf die russische Oktoberrevolution festhält. Diese konfrontiert Alexey Krashenninikov mit Aussagen und Textpassagen von Autoren, die die Revolution hymnisch begrüßt haben. Den letzten Teil des Abends bildet schließlich Waldimir Pantchevs "Emigranten" nach Motiven des gleichnamigen Schauspiels von Slawomir Mrozek. Zwei Männer - ein Intellektueller und ein Arbeiter - müssen sich in der Emigration eine gemeinsame Wohnung teilen. Die daraus entstehende Situationskomödie akzentuiert sowohl Mrozeks Ruf als Satiriker wie Pantchevs balkanische Lebensfreude.

Besetzung:

Jennifer Davison, Mezzo
Alexander Kaimbacher, Tenor
Steven Scheschareg, Bariton
Klemens Sander, Bassbariton
Ivan Shvedoff, Sprecher
René Zisterer, Regie
René Staar, Dirigent
Ensemble Wiener Collage

Über die Kompositionen

René Staar: PROLOG EINES NAMENLOSEN 
Dramatischer Monolog für Bariton und Kammerensemble Op. 22m
Text und Musik von René Staar (2012)

Das Exil, gesehen mit den Augen eines immer wieder zurückgewiesenen Asylwerbers unserer Zeit, anklagend, provozierend. Denn unser Asylwerber ist kein braver, geduldiger Mann.
Ihm sitzen die Widersacher im Genick, gleichermaßen aus seiner Heimat wie aus den Ländern, die scheinbar Humanität und Menschenrechte predigen.
Er ist kein Bittsteller: er fordert das Recht vehement ein, aufgenommen zu werden, ihn treibt Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit, aber auch Enttäuschung, sein Aufbegehren ist durchdrungen von Selbstbewusstsein. Wie gerne würde er daran glauben, dass man sich seiner annimmt, doch da sind die Gesetze, die das verhindern – Gesetze, die er mit seinem Gerechtigkeitsempfinden nicht in Einklang bringen kann. Seine Entrüstung darüber hat seine Enttäuschung in kalte Arroganz verwandelt.
In einem kurzen Vorspiel wird die Atmosphäre der Angst und der Einengung hörbar. Der Protagonist lebt im ganzen Stück mit der Furcht, entdeckt, zurückgewiesen, ja vernichtet zu werden. Die Bühne wird zur Bühne der rasch folgenden emotionalen Zustände des Namenlosen. Trotz der Ernsthaftigkeit seiner Situation scheint er mit seinen eigenen Gefühlen zu spielen, sie auszuloten. Das Publikum ist dabei genauso sein Feind (ein unbekannter, der allerdings die Gesetze, die ihn jagen, unterstützt) wie der hinter dem Vorhang, der sich am Ende des Stücks als die Milizen entpuppt, die ihn verfolgen, fangen, schlagen und ... Der Lärm hinter der Bühne droht immer wieder, seinen flammenden Appell, seine heftige Anklage zu unterbrechen und zu beenden.
Den Schluss des Stücks bilden die ersten fünf Takte im Krebs gespielt.


Alexey Krasheninnikov: VERFLUCHTE TAGE

Leseoper für Vorleser, Tenor, Sopran und Kammermusikensemble
Text und Musik von Alexey Krasheninnikov (2015)

Die Grundlage des Werkes bilden die Tagebücher des großen russischen Schriftstellers Ivan Bunin, die Anfang des 20. Jahrhunderts zur Zeit der Sozialistischen Revolution in Russland geschrieben wurden. Der Text spiegelt die Auffassung russischer Intellektueller vor der Revolution wider, ihre tiefe Besorgnis über das Schicksal der Heimat, die Verzweiflung über die in ihrer Wahrnehmung schrecklichen Tragödie, die das Land heimgesucht hat, der Hass und die Ablösung von allem, was mit der Revolution verbunden ist. Das Begreifen der eigenen Machtlosigkeit und das Gefühl, dass das Russland, das mit der neuen Volksmacht vernichtet wurde, unwiederbringlich verloren gegangen ist.  – All das, was den Schriftsteller sowie Millionen seiner Landsleute gezwungen hat, die Heimat für immer zu verlassen.
Die textliche Grundlage bilden Ausschnitte aus den Tagebüchern Ivan Bunins, die vom Vorleser vorgetragen werden. Darüber hinaus werden einige Gedichte russischer Dichter des 19. und 20. Jahrhunderts (Majakowski, Bunin, Mereschkowski) wie auch Kirchenlieder aus dem 14.-16. Jahrhundert verwendet, die sowohl gesungen als auch vorgelesen werden. Zudem ist eine historische Aufnahme von Wladimir Lenins berühmter Rede „Was heißt Sowjetmacht?“ zu hören.
Der Komponist ergänzt seine Komposition um direkte Zitate wie „Tapfer, Genossen, im Gleichschritt!“ (ein berühmter Marsch der Revolutionszeit), „Ach, Äpfelchen…“ (populäres Lied des russischen Lumpenproletariats am Anfang des 20. Jahrhunderts), „Meine sündige Seele“ (Nördlicher geistiger Vers des 14.-16. Jahrhunderts).   

Alexander Shchetynsky: INTERRUPTED LETTER
Opernphantasie in einem Akt, sieben Episoden für Bariton, Tenor, Sopran und Ensemble
Text und Musik von Alexander Shchetynsky (2013)

Im Zentrum der Handlung steht der große ukrainische Nationaldichter Taras Shevchenko (1814 – 1861). In den späten 1840er Jahren vom Zaren aufgrund geheimer politischer Aktivitäten und kritischer Gedichte in entlegene Winkel Russlands verbannt, fristet er ein Dasein in der zentralasiatischen Garnison. Stift und Papier sind ihm verboten, dennoch findet er Möglichkeiten, zu schreiben und mit seinen Freunden in der fernen Heimat zu korrespondieren. Das Schreiben gestaltet sich schwierig, Erinnerungen und unvorhergesehene Ereignisse unterbrechen sein Vorhaben.

Wladimir Pantchev: EMIGRANTEN
Kammermusikspiel in einem Akt für Bariton, Tenor und Ensemble
Text nach Motiven des gleichnamigen Schauspiels von Slawomir Mrozek, Musik von Wladimir Pantchev (2012-2013)

„Weshalb bist‘ geflohen? Ging’s dir schlecht zu Hause?“ - „Man flieht nicht irgendwohin, man flieht vor irgendwas.“ (Slawomir Mrozek)
Viele Menschen emigrieren Ende des zwanzigsten und Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts nach Europa. Sie erhoffen sich eine bezahlte Anstellung – dies bleibt Illusion; eine gute Wohnung – dies bleibt Illusion; sie versuchen ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern – dies bleibt Illusion.
Wladimir Pantchevs Werk dreht sich um zwei Männer unterschiedlicher Herkunkft, die sich eine gemeinsame Wohnung teilen, was mitunter zu durchaus komischen Situationen führt. Das Exilantenschicksal bleibt die einzige Verbindung der Wohnungskollegen. Zu groß und unüberwindbar sind die Unterschiede, die Illusionen,
jeder bleibt für sich allein. „I would be with night alone.“ (Khalil Gibran)
Kompositorisch bedient sich Wladimir Pantchev der musikalischen Collage. Verschiedene Zitate aus klassischen Opernwerken kann das Publikum selbst entdecken. Diese Assoziationen sollen dazu beitragen, die komische wie auch tragische Dimension des Stückes besser wahrnehmen zu könnnen.

Steven Scheschareg in Prolog eines Namenlosen
Foto: Anna Stöcher

Jennifer Davison und Klemens Sander in Interrupted Letter
Foto: Anna Stöcher

Alexander Kaimbacher in Emigranten
Foto: Anna Stöcher


Jennifer Davison und Alexander Kaimbacher in Verfluchte Tage
Foto: Anna Stöcher

Mit Unterstützung von Ernst von Siemens Musikstiftung,
Wien Kultur, Bundeskanzleramt Kunst:Kultur, GFOEM/akm, ske/austromechana